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Ein Text von Klaus Jans von 2006

 


DIE RELIGION WILL



LEBEN



– ABER


 
WIE SCHAFFT SIE ES?



UND VOR ALLEM: WIR?



GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG – DIE ROLLE


DER RELIGION IN EINER INDIVIDUALISIERTEN


GESELLSCHAFT



Ein Essay von Klaus Jans



Die beiden großen Kirchen in Deutschland müssen sich strecken, um die Menschen zu gewinnen, um die Menschen zu erreichen. Denn in dieser Zeit der Moderne, wo alles produzierbar ist, natürlich auch machbar und vielleicht auch erkennbar ... da wird die Kirche zu einem Erlebnisraum unter vielen anderen. Die Menschen der sogenannten zivilisierten Welt haben sich so weit hinauszivilisiert, dass sie so viele erdenkliche Sachen machen können, bis die Kirche eben nur noch eine Ablenkung im Strom der Möglichkeiten ist. Das Wort "Erfüllung" sei gar nicht erst zu nennen.

 

Ich will uns das Aufzählen ersparen. Denn wenn wir bei Skihallen anfangen und uns (über Bungee dann via Computer, Satellit, Fernsehen) dem Weltfußball oder anderen Abenteuern aller erdenklichen Art annähern (z. B. Schwerelosigkeit, LIVE, mit einer Helmkamera, übertragen ins Internet), dann haben wir nur mal ganz schnell angerissen, was alles möglich ist. Es gibt kaum eine Erfahrung, die sich nicht herstellen ließe ... oder medial zu anderen Menschen transportieren ließe, bis hin zu ganzen Lebenswelten, die Google Earth für uns kostenlos am Monitor abbildet.


Und dieses universelle Möglichsein bezieht sich vor allem auf die Welt der Ablenkungen vom Leben, also ein Leben, das sich leben lässt, damit man es nicht so zu spüren habe, wie es aber doch eigentlich gespürt wird. Es geht damit um eine gezielt antrainierte Aushebelung der menschlichen Natur, wo selbst Begrifflichkeiten wie Langeweile oder Natur oder Fortpflanzung entwertet werden … oder permanent ihren Sinn verändern.


Oder man möge es auch so ausdrücken: Es ist dieses "Ja, das könnte man ja auch machen!"-Gefühl, welches Überflutungen mit sich bringt, aber eben auch Möglichkeiten, bis diese Kann-Optionen ein neues nebulöses Etwas hervorbringen, in welchem wir nach Fluchtpunkten von Sinn suchen, aber nicht finden. Das Mehr ergibt die Sucht nach noch mehr, aber zugleich den Wunsch nach Innerlichkeit, um von diesem "mehr" nicht beständig überspült zu werden.


Wann immer Religion in Deutschland oder den klassischen Kernen des "alten" West-Europa(s) (vor allem Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien) zu reagieren hat, handelt es sich zuerst um den katholischen sowie (später hinzukommend) dann den evangelischen Glauben traditioneller Ausprägung, die sich aber beide zunehmend mit Konkurrenten der Vielfalt messen lassen müssen. In gewissen (intellektualisierten) Kreisen gehört Buddhismus heute z. B. schon zum guten Ton.


Und zugleich sind durch große Einwanderungsbewegungen andere Religionsmanifestationen – vor allem der Islam – in diese einstigen abgeschotteten europäischen "Schutzräume" hineingeraten, ein Faktum, welches dem (meist nur geduldeten) Judentum immer nur bedingt zugestanden wurde, bis die stete Anti-Bewegung so erschreckend im deutschen Holocaust, dem vorgeplanten Völkermord und der fast vollständigen Auslöschung der europäischen Juden gipfelte.


Aber heute überlagert sich dieser "alte" Antisemitismus mit einem arabisch geprägtem neuerem Antisemitismus, in dem kulturelle und religiöse Einflüsse sich seltsam vernetzen. Der jüngste Vorfall aus Frankreich, wo man den 23-jährigen Juden Ilan Halimi drei Wochen lang folterte, hat in ganz Frankreich zehntausende Menschen gegen den Antisemitismus auf die Straßen gerufen. Halimi war am 21. Januar 2006 verschleppt worden. Am 13. Februar wurde er nackt und gefesselt an einer Pariser Bahnlinie gefunden, er war mit Brandwunden übersät. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Täter stammen aus dem entprivilegierten Migrantenmilieu, aus welchem heraus zuvor die gewalttätigen Unruhen Frankreich wochenlang in Atem gehalten hatten.


Dieser Fall zeigt neben vielen anderen: Die Religion wird automatisch zu einer Etikettierung von Selbstbewusstsein oder auch Selbstbestimmung, in der die Frage des Glaubens nicht mehr eine der Religion ist, sondern der Glaube ist eine weitere Facette eines Lebensbildes, über das man sich definiert, bisweilen schon fast wie ein Kleidungslabel oder eine Automarke.


Für hier über Generationen groß gewordene Familien, die vom Christentum bald zwei Jahrtausende geprägt sind, zumindest aber seitdem der römische Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion des römischen Reiches machte, scheinen diese neuen Konstellationen überaus seltsam. Aber es fällt auf, dass alle diese Auseinandersetzungen sich an monotheistischen Gottesvorstellungen festmachen, während nichtmonotheistische Religionen sich eher schleichend in den Köpfen und Herzen der mitteleuropäischen Menschen bewegen.


Denken wir an Erscheinungen wie die einst so medienpopulären Bhagwanis, Anhänger von Rajneesh Chandra Mohan (+ 1989), heute als "Oshos" eher bedeutungslos, aber auch an evangelikale Kräfte, die sich über einen oft reaktionär geprägten Zugang zu den Herzen Gläubiger suchen, bis hin zu Buddhisten, die sich um uns kümmern, für uns kümmern. Wer es schafft, in harter Anstrengung ein völlig leeres Etwas zu werden, dem wird vielleicht via Nirvana irgendwann Glückseligkeit zuteil. Aber dieses sich Entheben vom Weltlichen ist der schwierigste aller Kraftakte, den – wenn überhaupt – nur wenigste Gläubige in langen Phasen der Meditation und der Entsagung erreichen können. An den Rändern des christlichen Glaubens sind zudem Esoteriker vorgedrungen. Sekten wie Scientology scheinen den Status "Sekte" in der öffentlichen Wahrnehmung sogar zu verlieren, weil sie immer mehr Mitglieder zu haben scheinen.


Und so beobachten sich alle argwöhnisch, während die großen Kirchen unter Federführung des Rates der EKD oder der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Sparen begonnen haben. Dieses Sparen und Kürzen von Stellen, Zusammenlegen von Gemeinden/Pfarrbezirken, das "Abbauen" von Beschäftigten ist ja nur die umgekehrte Ausdrucksform der immer mehr sinkenden Kirchensteuereinkommen, die wiederum mit immer weniger Mitgliedern zu tun haben. Hier geht es um eine Kirche, die die Gesellschaft nicht nur mit "Weihe" oder "Weihung" bedient, sondern mit einem ganzen sozialen Netz, das Altenheim, Kindergärten, Krankenhäuser usw. umspannt. Das ist die Kirche als Organisationsbündnis im erlebten Versorgungsalltag. Und diese Kirche hat im Widerspruch zur erfahrbaren sozialen Lage, also zu den Bedürfnissen der sich schleichend verelenden Gesellschaft, existenzielle Probleme, die der kirchlichen Geldnot entspringen. Dies geht bis zum radikalen Abbau der festen Stellen für Kirchenmusiker.


Deshalb ist die "Religion" hier im Westen anwesend, präsent, existent, man kann nicht an der Religion als gesellschaftlichem Ereignis vorbei, aber man fragt sich, in welcher spirituellen Form sie noch existiert. Der Aufbruch des deutschen Papstes zum Marienfeld bei Kerpen mit der Jugend der Welt hat nichts anderes "exerziert", als die erfolgreichen Hippie-Elemente vom Woodstock der 60er Jahre und einer generellen Vielvölkerbegeisterung der Jugend zu kopieren, um sie neu zu beleben, also die Rockkultur zu beklauen, zu vereinnahmen, und diese Erfolgsmuster zu benutzen. So wollte man die katholische Kirche auf einen neuen Zug setzen, der Begeisterung kreiert – und aus diesen Massenerlebnissen heraus dem Glauben eine neue Chance zu versprechen vorgibt. Ist das so?


Wer – wie ich – die Veranstaltung dort auf dem Marienfeld erlebte, sah und spürte eigentlich das eklatante Fehlen eines Gottes. Da war kein Gott zu spüren, keine Religiösität, kein Spirit des Übersinnlichen, es sei denn die Religion der "Masse". Eine allgemeine Festfröhlichkeit gab es, die aber sehr leicht auch bei anderen Massenereignissen zu erzielen und zu beobachten ist.


Auf der anderen Seite bleibt mir der Eindruck der Rheinischen Synode der evangelischen Landeskirche im Kopf, z. B. in Bad Neuenahr, wo die Delegierten dieses kirchlichen Parlamentes brav und redlich ihre "Kirche" verwalteten, und wo sich die Religion schon längst in Abhandlungen über Gelder, Reformen und allgemeine Winkelzüge verflüchtigte. Da war Politik und Diskurs bestimmend, Akte des Verwaltens, keinesfalls aber das Fest der Sinnlichkeit.


Je mehr man sich mit dieser Art Kirche beschäftigt, weiß man, dass es sich um eine politisch-gesellschaftliche Kraft handelt, die sich in zentrale Bereiche unseres Lebens hineinbewegt – und so Gesellschaft mitgestaltet. Das kann von den Menschenrechten bis hin zur prinzipiellen Menschheits-Ethik angesichts von immer neuen Klonversuchsanordnungen gehen. Auch Sterbehilfe und "Klassiker" wie Abtreibungen oder künstliche Befruchtung sind Fragen, die natürlich einer Lösung bedürfen, die aber "als Lösung" absehbar nicht zu finden ist.


Gewiss, die Stellungnahmen der Kirchen sind – in Deutschland – immer noch erwünscht, sowohl von der Gemeinschaft aller tatwirklich gesellschaftlich Handelnden ... als auch von den Gläubigen selbst. Kirche ist und bleibt eine Institution des moralischen Denkens, die sich mit ihrer jahrhundertelangen Verankerung in der (west)europäischen Kulturgeschichte zur wichtigen Stimme der Fortentwicklung der Menschheit erhebt. Dennoch wird man eigentlich nur beobachten können, wie Kirche versucht, zu bremsen, abzumildern, Ströme neu zu ordnen – die Kirche selbst aber hat noch keine essentielle Neuerung oder Reformbewegung innerhalb der Gesellschaft wirklich auffangen können. Insofern wäre die Kirche bloß eine stetige Bewegung der moderaten Anpassung an das Unvermeidliche, an den Strom der Zeit.


Aber das sind gesellschaftliche Phänomene – und das ist nicht Glauben als Erweckung, Glauben als spirituelle Begegnung mit einer überirdischen Macht, die alles Menschliche bedingt, wenn nicht gar konterkariert. Aber wie erfährt man einen solchen Glauben? Wie kann man so dem Glauben begegnen? Es werden gewiss viele zustimmen, die die beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften als Bestandteil unserer deutschen Kultur erleben. Christen greifen ein. Ja, gewiss. Sie sind präsent. Ja. Aber wo ist, bitteschön, eigentlich ihr Gott?


Kirchen gestalten unseren Alltag in einer Wechselwirkung, die erstaunen lässt, sodass man die Blumengestecke vor dem Altar von den Blumengestecken, die um die Ecke in den Privathäusern stehen, kaum unterscheiden kann. Eingangstüren zu moderneren Kirchen und Pfarrheimen spiegeln die Türkultur der Einfamilienhäuser. Diese Gedankenkette ließe sich bis zu den Kleidungstraditionen des Kirchgangs oder zum Essverhalten universell ausweiten. In diesem Sinne ist Kirche nicht spirituell mit allem verwachsen, sondern kulturell. Kirche prägt das Alltagsleben, das Alltagsleben wiederum bestimmt die Ästhetik der Kirchengemeinden.


Wer dann Kirchen besucht, Gottesdienste, der ist immer wieder verwundert, dass Menschen da (angeblich) einen Gott anbeten, dass auch Worte von "Herrlichkeit" oder "Freude" fallen, dieses aber gar nicht erfahrbar ist. Nichts zeigt an, dass hier eine spirituelle Kraft gefeiert wird. Eigentlich wirken die meisten Messen nur wie die bloße Erfüllung, wen nicht gar "Erledigung" von Pflichtbewusstsein … wie das angepasste Ausfüllen von blutleeren Regeln, die nun eben mal vorsehen, in der Kirche zu beten, Lieder zu singen, zuzuhören, Menschen zu grüßen, etwas zu spenden … um dann brav nach Hause zu gehen. Insofern haben die Kirchenkultur und die allgemeine Vereinskultur in Deutschland mehr als nur ein paar Anknüpfungspunkte.


Egal, ob evangelisch oder katholisch: Die ganze Liturgie ist ein schleppendes träges Ding, das kaum die Menschen wahrhaft anzusprechen weiß, und man wundert sich nicht, dass vor allem ältere Gesichter in den immer "dünner besuchten" Gottesdiensten zu sehen sind. Wem wolle man das vorwerfen? Oder: Lässt sich so etwas überhaupt vorwerfen?


Dennoch ist dann kein Wunder, dass neue Kräfte auftreten und sich der Sehnsüchte bemächtigen. Diese Sehnsüchte haben natürlich alle diese West-Menschen, die im Reichtum und einer schier unendlichen Vielfalt geradezu ertrinken ... und nun nach einem Halt suchen, einer Besinnung, einem Pol des Innehaltens, einer inneren Kraftquelle, einem "Etwas".


Wer schon afrikanisch-christlich Gottesdienste erlebte, der versteht gar nicht, wie blutleer und "unreligiös" unsere eigene Religionskultur doch noch stets daherkommt. Die eher traditionellen Kirchenlieder, zum großen Teil noch aus Luthers Zeiten, spiegeln eine längst vergangene steife Bürgerlichkeit wieder – und die Reformierungsversuche von zumeist evangelischen Christen hinsichtlich einer "rockigen" Art, Lieder über und zur Gotteserfahrung zu schreiben, waren noch nie besonders erfolgreich. Die meisten jungen Leute belächeln solche "Songs".


Das Bedürfnis nach neuen Liedern für den Gottesdienst ließ schon in den 1960er Jahren viele neue Kirchenlieder entstehen. Ein Art Beginn kam durch Martin Gotthard Schneider 1962 mit dem schon fast abgedroschenen „Danke für diesen guten Morgen", das in die Kirchen Einzug hielt. Heute sind unter dem Etikett "Neues geistliches Lied" (NGL) eine große Anzahl von Stücken entstanden, ohne dass den meisten der Zuhörer eine religiöse Erweckung anzumerken wäre. Da haben schon Gospels mehr Feuer und Innerlichkeit. So dümpeln die großen Volkskirchen vor sich hin, diskutieren eins ums andere Mal über neue Wege, Reformen, Ideen, und merken doch, was für ein schleppender Kahn das ganze Großereignis namens "Kirche" in Deutschland und Europa mittlerweile ist.


Dabei scheint Religion wichtig als Pol eines Sinnes in einer Welt, die sich selber "tattäglich" des Sinnes entledigt, weil jedes "Mehr an Vielfalt" mit einem Überfluss besetzt ist, der von niemanden mehr verstanden, bearbeitet, geschweige denn wirklich "erfahren" werden kann. Man könnte das Problem des dritten Jahrtausends (von den großen Erfindungen wie Telefon, Fernsehen, Internet, Digitalisierung begleitet) als "Einerlei des Vielsinnes" benennen – zugleich aber sieht man diesen christlichen Kirchen keinerlei Kraft an, um wahrhaft spirituell die Menschen zu erobern.


Und darum geht es doch, oder. Darum ginge es doch! Um das spirituelle Eindringen in das Verlorensein des Menschen der Moderne. Und so schön auch Sebastianusschützen anzusehen sind, die eine katholische Fronleichsnamsprozession begleiten, so muss doch ganz klar gesagt werden: Das ist Kultur – und wer genau hinschaut, beobachtet kaum Innerlichkeit, die dem religiösen Empfinden wahrhaft nahe ist.


Religion beruht auf dem Glauben an eine unbeweisbare, jenseitige, nicht direkt erkennbare Wirklichkeit. Vielleicht liegt ein Kern von Religion, wie ich sie verstehe, in dem Begriff "transzendental": vor aller Erfahrung liegend, alle Begrifflichkeiten des Menschen übersteigend. Und dieses fast schon körperliche Erfahren dieses Transzendentalen ist in einer rationalistisch geprägten Religionsausübung stark verlorengegangen. Man findet sie aber noch elementar, wenn man z. B. katholische Wallfahrtsorte aufsucht und einzelne bewegte Pilger beobachtet – oder sich selber den geballten Gefühlswallungen, die an solchen Orten bisweilen herrschen, ausliefert.


Das Christentum wirkt oft zu klar, zu logisch, zu wenig beseelt. Wer immer sich (vor dem Hintergrund des Attentats vom 11.9. und den Ereignissen im Nachgang) befremdet mit dem Islam auseinandersetzt, weil hier in weiten Teilen ein starke Dogmatisierung erkennbar zu werden scheint, der vergisst, dass genau diese Uniformität und die erwünscht Uniformität ja auch immer die Kraft des "Wir sind eins, eine Kraft, eine Bewegung, eine Erfahrungsgruppe, eine Gemeinde" hervorbringt – und dieses Gefühl bedeutet Macht, Stärke … und am Ende auch Geborgenheit.


Insofern ist der Islam als relativ junge Religion ganz anders von den Auflösungserscheinungen betroffen. Solange hier die Entwertung von Kulturen durch die Expansivität des Westens genauso erlebt wird, als handele es sich um eine kulturelle Entäußerung, ja eine eine schleichende und aggressive "Auslöschung" der islamischen Religion, des islamischen Weltfühlens, zumindest eine zunehmende Nichtbeachtung desselben, ist die zunehmend stärkere (Rück)Besinnung auf den Islam immer auch ein Movens des Protestes gegen die vermeintliche "Kulturlosigkeit" der westlichen Welt. Dabei geht es um kulturelle Ausprägungen, die sich fast tagtäglich zu neuen Bildern verdichten, die von beiden Seiten auch jeweils als "Bedrohung" erlebt werden.


Eine Welt des radikalen und schnellen Wandels, eine Welt, in der alle Werte genauso schnell entwertet sein können, wie sie entstehen, sucht natürlich ihren Halt in der Rückbezogenheit auf tradierte Werte – und in der Wiederbelebung untergehender Gedankengebäude. Bezogen auf die Religion ließe sich so eine Suche nach Innerlichkeit, vielleicht auch eine Hinwendung zu allgemein mystischen Mustern erkennen, besser: erspüren.


Es ist aber nicht so, dass für Christen im Westen ein massenhaftes "Überlaufen" zu anderen Religionen wie zum Islam, dem Buddhismus oder diversesten Sektierern/Sektierungen zu beobachten ist. Nein, es scheint eher so, als würden hier im Westen die angestammten Religionen mehr und mehr Mitglieder und Nachläufer an den universellen Freizeitkult verlieren, während sich diejenigen Religionskulturen, die sich nun in einer Phase erlebter Bedrohung und oftmaliger Demütigung wiederfinden, neu zu formieren versuchen und ihre Reihen in Form eines ewiglichen Abwehrkampfes offensiv aufstellen.


Auch dafür wird (wie so oft in der Geschichte, von den Christen durch die Kreuzzüge so tragisch für die Ewigkeit vorexerziert) wieder der universale Gott der monotheistischen Gottesauffassung als Zeuge oder Bote oder Grund oder was immer angeführt. Zugleich haben die alten Kern-Religionen nicht die Standfestigkeit, um in Westeuropa neue Anhänger zu gewinnen, sondern sie lösen sich nach und nach still und heimlich auf, allerdings nicht, ohne immer Neues zu probieren. Vielleicht sollte man den Weltjugendtag so verstehen: eine vorwärtsgewandte und erhoffte Auflösungsverhinderung, die einen Schub in die andere (neue?) Religionsrichtung zwar versucht, aber doch kaum mehr als ein Abwehrgefecht ist. Zudem werden altertümliche Auffassungen zu Fragen wie Homosexualität oder Verhütung unter modernem Happenings-Antlitz nur befestigt, und damit wohl verfestigt.


Ich fand es in diesem Rahmen überaus interessant, erstmalig den Gottesdienst einer Gruppe zu erleben, die sich als Aktion KunstRaumKirche bezeichnet. Diese (moderne) Idee eines anderen Zuganges zu den Dingen entstammt dem protestantischen Spektrum. Mir selbst fielen dabei während des "Gottesdienstes" in den Ausstellungsräumen des Kunstmuseums Bonn diese anderen Formen kaum positiv auf – es war ein Gottesdienst, der aber eher ein belehrendes Annähern an einen Künstler war, also quasi ein Volkshochschulkurs mit Bibelzutaten. In diesem Fall beschäftigte man sich mit dem "Erdtelefon" von Joseph Beuys. Aber da war eigentlich gar nichts mehr von der Religion, wie ich sie verstehe, wiederzufinden. Es kam einem vielmehr in der Nachbeschau so vor, dass Beuys in seinen Aktionen und Happenings viel mehr von Religiösität auffing und erspürte, als es viele evangelische und katholische Messen heutzutage vermitteln können.


Ich nenne diese Element "Spirit" – und genau den braucht eine Kirche, um wirklich die Menschen anzuziehen ... und ihnen eine Hilfe im Lebensalltag zu sein. Sinngebung und Sinnsuche setzen sich wohl nur über spirituell erlebte und erfahrbare Gottesdienste "berührend" um. Für Anregungen ließe sich Beuys befragen, der sich mit toten Hasen auf dem Boden wälzte, der demonstrativ Bäume einpflanzte und Stelen aus Basalt errichtete ... und sich vielfach mit den der Natur innewohnenden Kräften befasste. Seine (Beuys') Kunst ist vielleicht durchgängig eine Art Gottesdienst, zumindest ein religiöses – und zugleich auch religiös geprägtes – Handeln.

Es gab bei diesem Kunstgottesdienst, der offenbar schon sehr oft in Bonn stattgefunden hat, auch zwei Musiker (Gitarre, Saxophon), die wirklich ganz hervorragend waren. Sie haben mich berührt! Inwiefern man diese "Berührungen" durch Musik dann als göttlich bezeichnet oder versteht, wäre ein extra Thema. Denn ihre Musik war eher der Idee des Jazz verschrieben als etwas anderem. Und Beuys in seinen Werken hat mich natürlich auch "berührt". Ich dachte mir, es wäre eher Beuys derjenige, der in mir religiöses Empfinden hervorruft, oder der Anblick eines Flusses, wie es der Mittel-Rhein ist, als das emsige Treiben der Katholiken und Protestanten in Deutschland.


Was immer also die Kirche heutzutage sei … Ob es die Papstmanifestationen mit dem deutlichen Werben um Jugendliche beinhaltet, oder die intellektuellen Spielereien über Welt, Kunst und Welterleben – allesamt scheinen diese Aufbrüche (wenn es denn welche sind!) keineswegs Durchbrüche erzielen zu können.


Insofern empfinde ich mich selbst als suchenden Menschen, der jedwedem Dogma davonzurennen gedenkt, aber dann doch einen spirituellen Haltepunkt im Leben sucht. Demnach böte es sich an, hier und da alles auszutesten, sich zu buddhistischen Gebeten einladen zu lassen ... oder einmal in den hinduistischen Tempel nach Hamm (ins dortige Gewerbegebiet) zu fahren, die Taizégebete der (Alt)Katholiken aufzusuchen, wobei Taizé ja eine alle christlichen Fraktionen übergreifende, ökumenische Bewegung ist … und sich überall umzutun, um neu "inspiriert" zu werden. Diese Bewegung des Sich-Umtuns beobachtet man bei sehr vielen Menschen aus dem eigenen Umfeld. Dazu muss man gar nicht die neupopulären Kartenlegesendungen von Questico im Fernsehen verfolgen.


Der Kern von allem bleibt: Inspiration, Innerlichkeit, Erfahrung. Eine Gesellschaft des aufgeklärten Hochrationalismus, die alles weiß oder zu wissen vermeint, die jedes Thema in weiten Diskursen abfeiern lässt – eine solche Gesellschaft kann kaum den spirituell "naiven" Zugang zu welcher Gottesidee auch immer vermitteln.


Götter von heute werden in Kinos und Computerspielen erzeugt. Und ein toter Elvis lässt sich genauso betrauern wie ein toter Jesus. Da schwimmen die Begriffe und Orientierungen durcheinander und wieder zusammen. Und man hüte sich davor, eine jede Träne schon als Ausdruck innerster Verbundenheit mit einem göttlichen Prinzip zu sehen. Weinende Mädchen im Vorfeld von Konzerten der Teenagerband "Tokyo Hotel" belehren uns da eines Besseren bzw. Anderen.


Insofern scheint alles bereitet, dass die Religionen weiter versuchen, uns als Suchende anzuziehen, und wir uns aber wieder und wieder neu abgestoßen fühlen, weil uns alles träge oder starr oder leblos erscheint, und das gilt für die gängigen Religionen, die wir erleben und erleben konnten. Die Suche aber führt dazu, dass sich immer wieder neu Menschen um eine Religionsidee zusammenballen, und dass die Masse der religiös möglichen oder erfahrbaren Ideen per se immer größer wird, ohne echt ein Heilsverlangen befriedigen zu können.


Damit sind die Utopien, die wir leben können, eigentlich nur Aussichten auf eine noch weiter ausufernde Diversifizierung des Religionsgeschehens – und zugleich die Gewissheit, dass etwas Neues nicht in Sicht ist, das Alte uns aber nicht (mehr) wirklich zu begeistern vermag – dass sich zugleich alle Menschen schulterklopfend zugestehen werden, dass es ohne Religion nun mal nicht gehe.


Wenn aber Religion und religiöses Erleben nicht eine bloße "Vereinszugehörigkeit" seien, dann ist der oben angesprochene Gedanke des spirituellen Erlebens der Kern von allem. Und dieses kann nur wahr und wirklich werden, indem die Kultur der Trägheit, des ordentlich-Seins, der allgemeinen Körperlosigkeit europäischer Christen und das evangelisch "geziemende" Verhalten abgelöst werde … von einer Zuwendung zur erfahrenen Innerlichkeit.


Hierfür sollte man die Türen öffnen, und sich dann überraschen lassen, was sich daheraus bewegen werde. Die Taizégebete sind ein Schritt in diese Richtung. Auch der moslemische Kniefall vor Allah ist eine überaus starke Geste, die so etwas hervorrufen kann. Aber vieles an Lithurgischem, selbst die Art, Bibeltexte in Kirchen vorzutragen, weiß keinerlei spirituellen Punkt in den Herzen zu treffen. Beuys war vielleicht mehr ein Religionsführer als unser Erzbischof von Köln oder der Vorsitzende des Rates der EKD.


Aber Beuys, der Künstler, konnte die Massen nicht gewinnen. An seiner Intellektualität und dem auserwählten Forum der Kunstszene ist er als Religionsgründer gescheitert. Aber das war vielleicht auch gar nicht sein wirklicher Wunsch. Wenn wir also ernsthaft in diese Welt hineingucken, dann sind die gläubig wirkenden Menschenmassen eher in den arabischen oder afrikanischen oder südamerikanischen Ländern zu finden, die in der Religion ihr Lebensgefühl noch mit einer gewissen "Wucht" zu äußern wissen. Für uns in Deutschland, also für die große Masse der Deutschen, ist Religion (immer noch) ein fester Bestandteil der Alltagskultur, die bis hin zu "kölschen Messen" in katholischen Kirchen oder dem politischen Aschermittwoch in Bayern geht. Diese Kultur bestimmt die Ausbildung unseres Nachwuchses, die Krankenbetreuung und Todeskulturpflege, um nur einige Bereiche zu nennen.


Insofern ist Religion da. Aber wahre Innerlichkeit und erlebbare Transzendenz ist nur in einigen wenigen, zumeist kleinen Religionsgruppen zu entdecken. Vielleicht gibt es keinen Gott, vielleicht ist er auf eine seltsame Weise "tot". Das ändert nichts an den tiefen, inneren – und unsterblichen – Sehnsüchten der Menschen. Irgendwo und irgendwie muss sich in diesem gigantischen Kosmos doch ein mehr an Erkenntnis verstecken, das (welches) sich rational nicht erfassen lässt, nur religiös. Aber mit welcher Religion soll man da rankommen?



Der ESSAY entstand 2006.

___

(Der  Text wurde hier für die Homepage-Variante nochmals durchgesehen und evtl. rechtschreibemäßig korrigiert und auf die neuere Rechtschreibung angepasst.)


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